GALERIE KUNSTBUERO

Ausdruck durch Design

Eva Maria Stadler

Als Übersetzungsproblem bezeichnet Yve-Alain Bois die Übertragung eines Zitates von Henri Matisse in dem berühmten Artikel „On Modernism and Tradition“, der in der Londoner Zeitschrift The Studio im Jahr 1935 erschienen ist und dessen französische Quelle verloren gegangen ist: „A great modern attainment is to have found the secret of expression by color, to which has been added, with what is called fauvism and the movements which have followed it, expression by design; contour, lines and their direction.“ Als problematische Stelle markiert Bois „expression by design“.
Design sei ein konzeptioneller Begriff, der alle Genres überschreite und Differenzen abflache, Design sei eine projektive Praxis, die Yve-Alain Bois geradezu entgegengesetzt zu Matisse’ Auffassung von Malerei erscheint. Dass es für den Übersetzer eine Schwierigkeit darstellte, den Ausdruck „expression par le dessin“, den Bois als das Original annimmt, nicht mit „expression by drawing“ zu übersetzen, erklärt Bois mit der damals vorherrschenden Vorstellung vom Verhältnis von Farbe und Zeichnung. In Bezug auf Jacques Derridas Begriff der „archi-écriture“ entwickelt er am Beispiel von Matisse den Terminus „arche-drawing“ und meint damit, dass es, so wie Derrida die Unterscheidung von gesprochener Sprache und geschriebenem Text aufhebt, obsolet sei, danach zu fragen, ob die Zeichnung im Verhältnis zur Farbe vorläufig sei, dass es eine Errungenschaft der Moderne sei, den Ausdruck durch die Zeichnung neben den Ausdruck durch die Farbe zu stellen.

Um die Arbeiten von Suse Krawagna zu beschreiben, könnte man „expression by design“ nicht mehr als Übersetzungsfehler oder konzeptionellen Irrtum oder Zeichen für Unverständnis begreifen, sondern als Methode, um die malerische Geste, die Ausdehnung, die Quantität und die Qualität der Farbe und das Verhältnis von Größe und Maßstab von ihrer Selbstbezüglichkeit zu lösen und einen Prozess der relationalen Reflexion zu initiieren.

Die Zeichnung spielt bei Suse Krawagna eine zentrale Rolle, man könnte sie sogar als Protagonistin ihrer Arbeiten sehen. Und dennoch wäre es verfehlt, allein die grafischen Qualitäten der Zeichnung in den Blick zu nehmen. Denn die Krux besteht genau darin, dass Zeichnung und Malerei in den Bildern Suse Krawagnas einander bedingen, voneinander abhängig sind, da sie sich gegenseitig stets von Neuem infrage stellen.

Yve-Alain Bois unterscheidet zwei Konzeptionen der Zeichnung. Da wäre zum einen die Zeichnung im eigentlichen Sinn, die Zeichnung, die aufgrund ihrer technischen Möglichkeiten bestimmten Beschränkungen unterliegt, zum anderen spricht Bois von der Zeichnung als einer generativen Kategorie. Und meint damit die Möglichkeit, eine ästhetische Grammatik zu entwickeln, die nicht auf der Hierarchie der einzelnen Medien beruht, sondern auf Qualitäten, die Linienführung und Pinselstrich, Modulation, Schraffur, Farbton, Komposition und Bildraum gleichermaßen berücksichtigen. Auf diese Weise wird ein Vokabular entwickelt, das erlaubt, zeichnerische und malerische Effekte in Form einer Sprache anzuwenden. Obwohl sich Zeichnung und Malerei in ihrer Wertigkeit annähern, bleibt Bois dabei,der Zeichnung und nicht der Malerei die generative Kraft zuzuschreiben. Die Zeichnung verfügt aufgrund ihrer Eigenschaft,Abstraktion durch Konzeption zu erlangen, über das Potenzial des Entwurfs, des Plans, der Projektion.
Der von Bois negativ besetzte Designbegriff kann bei Suse Krawagna insofern ins Positive gewendet werden, als Design hier als komplexer Vorgang der Formfindung zu verstehen ist.

Suse Krawagna arbeitet hauptsächlich mit drei Formaten von Leinwänden, 50 x 40 cm, 160 x 130 cm und 200 x 160 cm. Und jedes dieser Formate wird in Serien angelegt. Oft dauert die Arbeit an einer Serie mehrere Wochen und Monate, die Bilder werden aus den jeweils vorhergehenden generiert. Das heißt, einzelne Elemente der Komposition, Farbflächen oder Lineamente werden in Reaktion, in Affirmation und im Widerstreit mit den bestehenden Motiven entwickelt. Ein transzendentes Flächenkompartiment wird etwa im darauffolgenden Bild kopiert, und der malerische Effekt der offenen Pinselspur wird präzise rekonstruiert.
Das Bildformat richtet sich nach zufälligen, oft praktischen Anforderungen, etwa Lagerung oder Trockenzeiten, und nach ästhetischen Entscheidungen, die die Relation von Motiv und Format, von innerbildlichen und außerbildlichen Bedingungen im Blick haben.
Die messbare und somit absolute Information des gegebenen Bildformates legt Suse Krawagna ihren Bilduntersuchungen zugrunde, um davon ausgehend mit Vergrößerungen und Verkleinerungen, Abweichungen und Verstärkungen im Motiv, in der Komposition, im Pinselstrich und in der Linienführung zu arbeiten. Den Ausgangspunkt bilden für Suse Krawagna oft beiläufig wahrgenommene Gegenstände oder Architekturelemente. Das können Halteschlaufen in der Straßenbahn sein, Stuhllehnen oder Klettergerüste. Gesehenes wird wie in einem fotografischen Verfahren zunächst als Spur des Realen festgehalten, wird skizziert und sodann seziert, in seine Bestandteile zerlegt, um Formzusammenhänge herzustellen und zu überprüfen.
Gegenständliches und Ungegenständliches überblendet Suse Krawagna. Sie arbeitet mit einer verunreinigten Abstraktion, die sich nicht im Anspruch des Universellen erschöpft, sondern stets von Neuem zur Disposition steht.

Suse Krawagna verfährt mit ihrem gegenständlichen und abstrakten Formenvokabular am einzelnen Bild genauso, wie sie es innerhalb der Serien fortführt. Die Zeichnung dient dabei als Modell, als diagrammatisches Verfahren, um die Abweichungen, Differenzen aufzuzeichnen, zu notieren.
Denn mit diesen Aufzeichnungen und Notationen kann ein relationales Denken im buchstäblichen Sinn anschaulich gemacht werden. Das abstrakte Formengefüge materialisiert Brüche, Differenzen, Zusammenhänge und Ordnungen.
Mehr noch können im malerischen Diagramm ästhetische Effekte in Affekte umgewandelt werden.
Die zeichnerischen und malerischen Elemente werden wie nach einem ästhetischen Bauplan auf die Leinwand übertragen und verlangen daher gewissermaßen nach Überprüfung durch Wiederholung.
Für Suse Krawagna ist das Malen als Wiederholung ein Prozess höchster Konzentration und besonderer Aufmerksamkeit gegenüber jeglicher Veränderung. Von der Konzentration gelangt sie zur Konzeption, sie beginnt,bewusst einzugreifen und mit größeren oder kleineren Änderungen die Motive, Farben und Tonwerte neu zu verschalten.
Ein zunächst weit hergeholt erscheinender Vergleich mit der ostasiatischen Zeichenkunst vermag vielleicht Aufschluss über das Malen als Produktion von Konzentration zu geben. Denn die Zeichenkunst entwickelte sich im ostasiatischen Raum aus der Kalligrafie und kann mehr als Meditationsübung verstanden werden, während die Zeichnung in der abendländischen Kunst als wissenschaftliche Übung zu sehen ist. In chinesischen und japanischen Tuschezeichnungen wird ein beschränktes Formenvokabular ständig wiederholt, dieselbe Landschaft, derselbe Baumstamm, derselbe Steinhaufen wird stets von Neuem gezeichnet bzw. gemalt. Dabei gilt es nicht einen angenommenen Originalzustand herzustellen, sondern vielmehr eine möglichst konzentrierte Übung zu vollziehen, um dadurch zu qualitativen Veränderungen zu kommen.

Suse Krawagna versucht in ihrer Arbeit einen Zustand der Konzentration zu einem Zustand der Konzentration zu gelangen, in dem alltägliche Wahrnehmungen und Erinnerungen als Wissen produktiv gemacht werden können.
Etwas, das zunächst noch nicht konkret, nicht fassbar ist, dem Nichtwissen zufällt, kann sich durch das Zeichnen materialisieren, einen Raum einnehmen. Mindestens genauso wichtig erscheint es Suse Krawagna, von Wahrnehmungen ausgehend zu zeichnen, Fehler zuzulassen, Hindernisse herzustellen.

Als das „Ungefähr [als] Rest von nicht ganz vertriebenem Dunkel des gelebten Augenblicks“ beschreibt der Philosoph Ernst Bloch den Vorgang des Sehens, das sich an das Bild annähert. Bloch sagt, dass das Stück Fläche in der Malerei den Ausdruck des Nicht als solches manifestiere: „Das unmittelbare Nahe ist in Bezug auf sein Da durchaus nicht erschienen, ja es ist so das Nicht selber. Als eines jedoch, das[…] als treibendes Daß, als Hunger und Anstoß ganz unten darauf hin treibt, immer wieder zu seinem Was herausgebracht und wachsam prädiziert zu werden. Mit allem bisher Erreichten weiter unzufrieden, sein Nein dialektisch wühlen lassend. Dieser Art ist das Nicht keineswegs ein Nichts, als welches ES vielmehr ein vereiteltes Werden, ein Scheitern des Bestimmens voraussetzt. Während doch das Nicht im Unmittelbaren der Nähe allemal am Anfang steht und dem Fortgang gerade zu einem Noch-Nicht verschworen ist, ob auch, mit möglichem Nichts danach, am Ende. So noch ungeworden, also offen, geht das klopfende Nu in allem ansetzenden Jetzt und Hier weiter, fließt nicht, sondern pulst. Läuft weiter pulsend in allem und jedem Aussagen, worin es sich inhaltlicher, daseiend zu fassen versucht.“ So wäre das Problem des Stücks Fläche „das Nicht, das Noch nicht als erhabener Augenblick in der Malerei“, folgert Georges Didi-Huberman in Bezug auf Bloch.

Huberman schreibt weiter über den Konflikt von Annäherung und Entfernung, DEN KONFLIKT VON Festlegung und Unentschiedenheit als Faktoren des Piktoralen, des Bildwerdens, womit stets das Bildwerden im doppelten Sinn gemeint ist, nämlich das materielle Werden des Bildes durch die Hand des Malers und das Werden des Bildes durch das Sehen. Der Effekt des Stücks Fläche sei, so Huberman, „so etwas wie daspanische Umschlagen des Lokalen ins Globale, des Details ins Ganze in dem Sinne, wie das Detail als spatium im Ganzen als extensum wiederkehren würde, um dort zur Heimsuchung, zur Obsession zu werden – als punktuelles und packendes, unsinniges Einbrechen des Details ins Ganze“.

In den Bildern o.T. 2013 kreuzt Suse Krawagna mehrere von links unten nach rechts oben diagonal verlaufende Linien mit einer Gruppe quer gezogener Striche. Abstände und Zwischenräume von einer Linie, von einem Lineament zum anderen variieren dabei minimal. Aus diesen Abweichungen leitet Suse Krawagna weitere Formen ab, sie schärft den Blick, nimmt Änderungen als Korrekturen und Korrekturen als Änderungen vor. Als würde sie einen Film zurückspulen,setzt sie an einem bestimmten Punkt an, von dem aus sie weiterarbeitet. Stets sind es die Beziehungen zwischen den Elementen, die überprüft oder einfach nur eingegangen werden. Neben den motivisch wirkenden Formelementen ist es die Modulation der Farbe, die Suse Krawagna wie in einem Musterbuch durchdekliniert. Von Blau zu Hellblau zu Türkis zu einem Himmelgraublau. Wie Albert Henry Munsell, der am Ende des 19. Jahrhunderts einen systematischen dreidimensionalen Farbraum anzulegen begann, der nach Farbton, Sättigung und Helligkeit aufgebaut war, versucht Suse Krawagna eine Ordnung der Wahrnehmung, der ästhetischen Empfindung herzustellen.

Gruppierungen von Schraffuren werden nebeneinandergeschichtet, überlagert und wieder voneinander gelöst. Suse Krawagna bedient sich dabei einer Palette von Möglichkeiten, arbeitet mit Kontrasten von Hell und Dunkel, von Farbe und Nichtfarbe, von Opazität und Transluzenz.
Diese Anordnungen von Farbflecken werden mehrfach wiederholt. Die Lineamente können als Zeiteinheiten gesehen werden, die durch das Nebeneinandersetzen des Strichs rhythmisierte Farbelemente ergeben.
Abstraktion ist für Suse Krawagna ein Prozess,bei dem es weniger um Ökonomisierung, Reduktion und Beschränkung von Zeichen geht als um das Bildwerden, um das Malen, bei dem Projektion, Entwurf, „disegno“, Wahrnehmung und Empfindung kurzgeschlossen werden.

back